Fragen ans Proletariat: Sexworkerin Helga Schmidt

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Auch ein besseres Liebesleben beginne im Kopf, sagt die Prostituierte Helga Schmidt. Ein Gespräch über Sex als Form des Gottesdienstes und über einen Schnupperkurs als Barista.

Frau Schmidt, in Ihrer Arbeit setzen Sie sich mit dem «Sexout» auseinander, dem Problem, das Menschen haben, denen der Sex fehlt. Eine zentrale Gesellschaftsfrage?

Es gibt sicher wichtigere Probleme. Aber nicht für die Betroffenen.

Ist Sexout weit verbreitet?

Aus Gesprächen und Umfrageergebnissen weiss ich, dass sehr viele Menschen nicht zufrieden sind mit dem, was sie in ihrem Sexleben bekommen oder nicht bekommen. Die Zahlen deuten darauf hin, dass die Unzufriedenheit über die letzten Jahrzehnte zugenommen hat.

Was könnten die Gründe dafür sein?

Was man in der Wirtschaft Konjunktur nennt, findet auch in kulturellen Dingen statt. Jahrhundertelang musste die Sexualität unter der Bettdecke gehalten werden, niemand weiss genau, was da passierte. Mitte des 20. Jahrhunderts kam der grosse Aufschwung. Aber auf jeden Aufschwung folgt ein Abschwung. Auf und nieder, immer wieder. Nachdem viele Menschen mehr Sex gehabt hatten, als sie sich je hätten denken können, ist die Zeit der Erschöpfung angebrochen. Erschöpfung dient der Erholung. Nun haben viele weniger Sex, als sie sich je erhofft hätten.

Was tun?

Nachdenken hilft. Die Prostitution hat sich schon in ihren Anfängen mit Sexfragen beschäftigt. In Platons «Symposion» tritt Sokrates auf, der den ersten Sexout der Geschichte erlebte, als seine Frau Xanthippe nichts mehr von ihm wissen wollte. Die Hetäre Aspasia riet ihm dazu, aus körperlichen Gelüsten geistige zu machen.

Ein Patentrezept?

Als Prostituierte will ich keine Normen verkünden, nur Möglichkeiten aufzeigen. Das Nachdenken könnte dahin führen, sich einmal genauer für das andere Geschlecht zu interessieren, auch anatomisch. Männer könnten sich zum Beispiel mal kundig machen, was eine Klitoris ist. Und dass die Fasern, die von ihr ausgehen, bis ins Ohrläppchen reichen können. Wer Sex will, sollte ihn so attraktiv für den anderen machen, dass der sagt, ich habe zwar keine grosse Lust, aber weil ich dich so gerne mag und du dir so grosse Mühe gibst, probieren wir es jetzt einfach mal aus. Auch beim Sex kommt die Lust mit dem Vollzug.

Und wenn nicht?

In fast allen Beziehungen driften die Sexualitäten irgendwann auseinander. Einer von beiden will weniger und der andere mehr. In 70, 80 Prozent der Fälle will der Mann mehr, in 20, 30 Prozent die Frau. Da läge es doch nahe, ein Agreement zu treffen: Wenn du mehr willst und ich dir das nicht geben kann, holst du es dir eben anderswo, aber wir bleiben trotzdem zusammen.

Funktioniert das?

Jeder Paartherapeut wird Ihnen bestätigen: Wenn beide einigermassen guten Willens sind, kann aus einer Zusatzbeziehung eine neue Inspiration für die bestehende Beziehung kommen. Wir sollten das nicht so sehr unter dem Aspekt der Moral betrachten.

Klingt prosaisch. Gilt Sex denn nicht vielen als göttliche Erleuchtung?

Ja, an die Stelle von Religion ist Sex getreten. Jeder, der jemals guten Sex hatte, weiss, dass das im Grunde Gottesdienst ist: Menschen verlieren ihr Zeitgefühl und erfahren eine enorme Intensität. Das sieht alles nach religiöser Erfahrung aus. In beiden Fällen erfahren wir das Wesentliche des Lebens, die grundlegende Energie, da gibt es in meinen Augen keine Trennung zwischen Sex und Religion.

Kann man an Sex geistig wachsen?

Auch ich könnte meinen Beruf nicht ausüben ohne diese Inspiration. Das können Neurobiologen heute ganz gut erklären, denn beim Sex werden bestimmte Stoffe frei, die die Synapsen im Gehirn beflügeln. Sex ist ein Hort der Kreativität und Produktivität ohnegleichen. In Platons «Symposion» wird die Theorie entworfen, man solle sich von der körperlichen Erfahrung der Sexualität lösen und die Leiter hochsteigen, sich den Seelen zuwenden, dann dem Geist und schliesslich nur noch die Idee des Schönen denken. Auch hier gibt es zwei Auffassungen: Die Schule der deutschen Altphilologen sagte immer, wenn du oben angekommen bist, musst du da sitzen bleiben. Die Schule der französischen Altphilologen hingegen meinte, verweile ein bisschen, und dann steig wieder nach unten.

Gut, aber wenn da unten gerade nicht sehr viel zu holen ist?

Wir können uns nicht nur mithilfe von Sexualität im direkten Sinne befriedigen. Auch Essen ist eine Art von Oralsex. Allerdings muss man auch diese Kunst erst erlernen. Auch etwas Gutes zu trinken, ist Sex. Weil ich sehr gerne Kaffee trinke, habe ich kürzlich einen Schnupperkurs als Barista gemacht.

Für den Fall, dass nichts daraus wird, bleiben Sie bei der Prostitution.

Im käuflichen Sex findet sich alles Zwischenmenschliche wie im Brennglas verdichtet in einem exterritorialen Raum. Ist dieser Sex verwerflich? Man muss an die Verantwortung des Freiers appellieren: Kümmere dich darum, dass du mit freien Frauen zu tun hast, um nicht Zwangsverhältnisse zu unterstützen. Auch über unsere Rechtsinstitutionen könnten wir mehr machen, damit erzwungene Prostitution nicht vorkommt.

Verfehlt käuflicher Sex unser Ideal, weil keine Liebe dabei ist?

Ich muss nicht darüber urteilen, welcher Sex ideal ist. Für etliche Männer wie auch für manche Frauen mag der unverbindliche Minutensex der richtige sein. Mehr als Minuten sind es ja in der Regel nicht, es sei denn, es handle sich um Escort Service, der noch stärker ausbaubar ist. In der Antike führten Hetären eine vollkommen freie Existenz an der Seite eines Mannes, teilweise über Jahre, ohne mit ihm verheiratet zu sein. Eine erotische Art der Beziehung, die nicht einfach nur aus dem Vollzug von Sexualität bestand.

Aus Ihrer Arbeit erzählen Sie nicht öffentlich. Warum eigentlich nicht?

Weil es schnell ungute Diskussionen zur Folge hat. Es ist in diesen Fragen so viel Glauben im Spiel, es ist fast schlimmer als mit religiösen Bekenntnissen. Dafür, dass man etwas über Prostitution sagt, kann man angespuckt werden.

 
Mit freundlicher Unterstützung von der NZZ am Sonntag.

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